Transformationsprozesse von Sakral­bauten und die Bedeu­tung von Raum und Ort

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Aktuelles I Foto: Jan van der Wolf, pexels

In den kommenden Jahrzehnten ist in Deutschland mit einem erheblichen Leerstand von Sakralbauten zu rechnen. Nach aktuellen Prognosen sind sowohl Nutzung als auch Erhalt von einem Drittel aller Kirchen unsicher.1 Mit der Zunahme der Kirchenaustritte und dem Rückgang von Einnahmen über die Kirchensteuer geht auch die Frage einher, ob und wie sich die großen Kirchen ihren Gebäudebestand in Zukunft leisten können. Berichte über die Profanierung und Umnutzung von Kirchen, z. B. als Altenheime, Wohnhäuser oder Kindergärten, häufen sich, sind aber im Verhältnis zum Gesamtbestand noch Einzelfälle.

actori hat bereits im letzten Jahr auf die Notwendigkeit hingewiesen, Überlegungen zur Nutzungserweiterung und Umnutzung von Sakralräumen frühzeitig und fundiert durchzuführen. Seitdem wird das Thema in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft zwar zunehmend – aber noch nicht ausreichend – diskutiert. Diese Entwicklungen und Diskussionen sind auch über die Grenzen Deutschlands hinaus zu beobachten: Im niederländischen Vught wurde die Kirche De Petrus zu einem Museum mit Bibliothek und Gemeindezentrum umgebaut, in Maastricht befindet sich in einer ehemaligen Dominikanerkirche nun eine Buchhandlung und in der Londoner St. Thomas Church ein Sterne-Restaurant. Trotz dieser Entwicklung fehlt es nach wie vor an einer breiten gesellschaftspolitischen Diskussion und der Entwicklung eines strategischen Umgangs damit.

Neben der Frage nach der Nutzungserweiterung und Umnutzung sind Transformationsprozesse von Kirchen auch untrennbar mit der Frage ihrer räumlichen Funktion verknüpft – und das in einem dreifach konnotierten Sinne: die Bedeutung der Kirchen im Stadtraum, als Gemeinschaftsraum und als Möglichkeitsraum.

Die Kirche als prägendes Element im Stadtraum
Kirchen sind nicht nur liturgische Orte, sondern auch bedeutende Elemente im stadträumlichen Gefüge. Ihre Architektur prägt sowohl das Stadtbild als auch den Stadtraum und stellt oft einen zentralen Bezugspunkt im städtischen Kontext dar – sei es durch ihre solitäre Position in der Mitte oder als flankierendes Element eines öffentlichen Raumes. Dabei vermitteln Kirchen häufig Identität und Orientierung im Stadtraum. Die Umnutzung von Kirchengebäuden muss daher unausweichlich auch aus städtebaulicher Perspektive betrachtet werden. Bei Transformationsprozessen gilt es zu untersuchen, wie sich eine Funktionsänderung des Innenraums auf die stadträumliche Wahrnehmung und Nutzung auswirkt und inwiefern neue Nutzungen bestehende räumliche Qualitäten stärken oder schwächen können.

Die Kirche als doppelt konnotierter Gemeinschaftsraum
Der zunehmende Leerstand vieler Kirchen steht in einem Spannungsverhältnis zu einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Orten des sozialen Austausches, der Gemeinschaft und der kulturellen Identifikation und Interaktion. Und trotz sinkender Mitglieder- und Besucherzahlen genießen Kirchen als Orte der Gemeinschaft nach wie vor eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung – unabhängig von der Konfession oder der religiösen Bindung. Wenn wir von Kirchen als Orten der Gemeinschaft sprechen, müssen wir aber auch von der Möglichkeit dieser Gemeinschaft sprechen. Und so gilt es, den Prozess der Umgestaltung von Kirchengebäuden auch zu einem Raum der Gemeinschaft werden zu lassen, indem der Prozess Raum – im Sinne der Möglichkeit – für die Beteiligung der Gemeinschaft ermöglicht. Ein wesentlicher Bestandteil eines sakralen Transformationsprozesses muss daher auch die Einbeziehung der Gemeinschaft sein. Partizipative Verfahren können sicherstellen, dass die Bedürfnisse und Wünsche der lokalen Bevölkerung und Gemeinde in den Umnutzungsprozess einfließen. So kann das Versprechen der Kirche als Gemeinschaftsraum über die sakrale Nutzung hinaus eingelöst werden.

Die Kirche als Möglichkeitsraum: „Vierte Orte“
Als „Dritte Orte“ werden soziale Räume definiert, die zwischen dem Zuhause als „erstem Ort“ und dem Arbeitsplatz als „zweitem Ort“ liegen. „Dritte Orte“ lassen sich demnach als halböffentliche Orte zwischen dem Privaten und dem Geschäftlichen definieren, die die Möglichkeit für informelle Begegnungen und spontane Dialoge eröffnen. Kirchen bieten darüber hinaus die Möglichkeit, so genannte „Vierte Orte“ zu werden – Räume, die durch ihre emotionalen Qualitäten und ihre soziale und kulturelle Identifikation über die Funktion eines „Dritten Ortes“ hinausgehen. Diese Idee liegt beispielsweise der Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ zugrunde, die von Baukultur NRW ausgerichtet wurde.2 Ein solcher „Vierter Ort“ hat das Potenzial, zum kulturellen Gedächtnis einer Stadt zu werden und sich als sozialer und kultureller Identifikationsort für eine Stadt oder eine Gemeinschaft zu etablieren. Dabei kann er die Bedürfnisse der lokalen Gemeinschaft widerspiegeln, ohne sich auf religiöse Praktiken zu beschränken.

Diese scheinbare Diskrepanz zwischen der Relevanz sakraler Bauten und der quantitativen Realität von Kirchenmitgliedern und Kirchenbesuchen ist ein Indikator für die Komplexität dieser Transformationsprozesse, denen diese Bauten gegenwärtig und zukünftig unterworfen sind.

Mit unserer langjährigen Erfahrung in der Analyse städtebaulicher Kontexte und der Umnutzung bestehender Infrastrukturen, in der Durchführung von Beteiligungsverfahren und der Organisation von Verantwortungsgemeinschaften sowie in der Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte und den Kulturräumen unserer Gesellschaft kann actori Bistümer, Bauämter und Kommunen dabei unterstützen, Transformationsprozesse strukturiert zu gestalten. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In den letzten Jahren hat actori eine Machbarkeitsstudie zum wirtschaftlichen Betrieb und zur Neuausrichtung der Internationalen Begegnungsstätte Kloster Speinshart sowie eine Organisationsuntersuchung und Neustrukturierung des Betriebsmodells der Veranstaltungsstätte Immanuelskirche durchgeführt.

Für mehr Informationen kontaktieren Sie uns unter team@actori.de.

Quellen:
1) „Jede dritte Kirche steht vor einer ungewissen Zukunft“ von Reinhard Bingner, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.12.2024.
2) Die Ausstellung war vom 1.9. bis 6.10.2024 in der Heilig-Geist-Kirche in Essen zu sehen und geht ab dem Frühling 2025 auf Wanderschaft.https://baukultur.nrw/museum/ausstellungen/kirchen-als-vierte-orte-perspektiven-des-wandels/.

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Ein Beitrag von Dr. Clara Teresa Pollak, Beratung.

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